Stories – Geschichten gut erzählen

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Jeder hat schon gelacht, geweint, geflucht, mitgelitten – auch wenn er das Wort „Empathie“ noch nie gehört hat. Eine Geschichte ist Deine Chance, den Leser am Gefühl zu packen und mitzureißen. Die zähen Details hebst Du Dir für später auf.


Was um Himmelswillen hat der Regenwald mit Software von SAP zu tun?

Nein, es sind dieses Mal nicht die Server, die Strom verbrauchen, der wiederum hergestellt werden muss, was CO2 freisetzt, weswegen wir den Wald brauchen, der das CO2 verbraucht bzw. bindet. Es ist viel mehr die Geschichte eines Start-ups mit dem Namen „Rainforest Connection“. Die Jungunternehmer versuchen mit vernetzten Mikrofonen großflächig illegalen Holzfällern auf die Schliche zu kommen. SAP Software sorgt dafür, dass die Audiodaten intelligent ausgewertet werden können und die ökologisch engagierte Firma den Wald retten kann.

Eine tolle Geschichte mit allem, was eine gute Geschichte dramaturgisch braucht. Um mit Jochen Mai zu sprechen: Einen emotionalen Ausgangspunkt (hier: Klimawandel und Regenwald), eine sympathische Hauptfigur (Held), Konflikte und Hindernisse (Problem), eine erkennbare Entwicklung (Lösung), einen Höhepunkt (Fazit). Der besondere Trick: SAP ist gar nicht selbst der Held. Sie unterstützen ihn nur tatkräftig. Hinter dem großen Guten tritt das imagebezogene Trittbrettfahren des Großkonzerns allerdings in den Hintergrund. Die Fakten verschwimmen zur angestrebten Sympathie-Melange.

Die Welt in menschlichem Maß

Mit Deiner Geschichte bringst Du die große, komplexe Welt vor das geistige Auge Deines Drüberfliegers. Du machst sie für jeden, der wie Du über dieselben Sinne und Gliedmaße verfügt, anschaulich, fühl-, riech- und hörbar – kurz: nachvollzieh- und vorstellbar … oder eben nicht:

Der Name des ‚Wunder-Werkstoffs‘ klingt völlig unspektakulär: 72HA. Hinter der Kurzformel verbirgt sich eine pulvermetallurgische Legierung auf Eisenbasis mit hohen Kohlenstoff- und Chromanteilen. Ihre chemische Zusammensetzung garantiert einen exzellenten Verschleißschutz gegen Abrasion und Korrosion.

Tja, was war noch gleich „Abrasion“, „…lurgische Legierung“ und wie soll ich mir unter einer „Eisenbasis mit hohen Kohlenstoff- und Chromanteilen“ mehr vorstellen als ein unattraktives, einheitlich graues Etwas? Nichts von extremen Drücken, Temperaturen oder ätzenden Gemischen, denen der hier beschriebene neue Werkstoff standhalten muss. Die bislang üblichen Stoffe mergeln entschieden zu früh aus, werden angenagt und abgefräst von allerlei mit Macht herandrückenden Materialien. 72HA sei Dank, laufen die entsprechenden Maschinen sehr viel länger störungsfrei. Von alldem schreibt der Autor entweder gar nicht oder in keimfreien Begriffen. Eine verpasste Chance.

Einige Beispiele, wie sich Abstraktes auf menschliches Maß bringen lässt: Wasserstoffautos werden mit verflüssigtem Wasserstoff betankt. Damit das in wenigen Minuten getan ist, steht die Tankleitung unter Druck. 700 bar. Was sind schon 700 bar, fragt der Laie und der Geschichtenerzähler antwortet: ungefähr 700mal der Druck, der in einem haushaltsüblichen Dampfkochtopf herrscht, wenn der wegen Überdruck Dampf abbläst. Wie fühlt sich eine Vollbremsung im Fahrerhaus eines 40-Tonner-Lkw an? Etwa so, wie der Start eines Formel-1-Rennwagens beim Großen Preis, nur eben umgekehrt. Und im Regenwald-Beispiel? Das, was Rainforest Connection da tut, ist vergleichbar mit dem Versuch, auf einer Fläche 10mal so groß wie Deutschland mit Mikrofonen herauszubekommen, wo jemand in diesem Augenblick verbotenerweise eine Motorsäge anwirft.

Don’t forget the facts, but push the story anyway

Nichts ist spannender als die Geschichten, die das Leben wirklich schreibt. Unwillkürlich kraucht die Fantasie demjenigen hinterher, der vor Ort war und etwas ‚in echt‘ erlebt hat. Man könnte es selbst gewesen sein. Lesen mit Schauerfaktor. Dabei gilt für bestimmte Blätter das, was Cicero der Bildzeitung zum 60. hinterhergerufen hat:

Boulevard-Journalisten wollen Geschichten erzählen. Für sie gilt der amerikanische Lehrsatz: ‚Forget the facts, push the story.‘ In einer guten Boulevard-Story wirken Zahlen wie Stacheldrahtverhaue.

Für alle anderen sind Fakten Belege, Realitätsanker, Merkhilfen und unterfüttern das Geschehen mit Glaubwürdigkeit. Kann man von den Details gar nicht lassen, entgleist die Geschichte, wird der Held zum Buchhalter der Datensammlung. Lässt man die Fakten eiskalt hinter sich, schlägt man den Weg zum Märchen ein.

Mit dem ersten Satz direkt in die Handlung

Man kann über Urlaub in der kalten Jahreszeit schwadronieren oder den Sprecher eines Verbandes zitieren, vielleicht mit wohlmeinenden Worten und Zahlen zur Ganzjahressaison für Caravanbesitzer. Oder man springt einfach mittenrein:

Im kuscheligen Wohnwagen sitzen, während draußen Schnee und Eis liegen. Oft direkt in der Natur, etwa im Gebirge. Zusammen mit anderen ‚Verrückten‘ – das ist Wintercamping.

Man hört richtiggehend den Wasserkessel bollern auf dem Gasherd vor dem ausstellbaren Seitenfenster aus Hartplastik. Gleich, ob es hier um Urlaubskuriositäten oder einen neuen gefriersicheren Wassertank für Wohnwägen geht, man sitzt sofort mit am Tisch und möchte wissen, ob Camping im Winter wirklich auszuhalten ist.

Wie viele weitere Möglichkeiten hätte das Weltall mit seinen unendlichen Weiten hergegeben, eine Geschichte über die Entwicklung eines Weltraumteleskops zu starten. Stattdessen das:

Denken Sie einmal an Ihr letztes Konstruktionsprojekt zurück. Gab es dabei höchste technische Anforderungen, die damals kaum erfüllbar schienen? Dann stellen Sie sich jetzt eine Konstruktion vor, die in der rauen Umgebung des Weltraums Bestand haben muss. Ein System, das über ein Jahrzehnt lang mit Strom versorgt werden und einwandfrei funktionieren muss, weil es keine Möglichkeiten für Servicemaßnahmen gibt.

Ich weiß nicht, ob ein Vogelhäuschen ein angemessener Vergleich gewesen wäre, aber „Konstruktionsprojekt“ klingt abstrakter als „Computertomographie“. Und mit der Aufforderung an den Leser, sich etwas vorzustellen, drückt sich der Autor vor der Arbeit, es selbst zu tun und es dann dicht zu beschreiben.

Fazit

Lande mit Deiner Geschichte das Raumschiff Abstraktion auf dem Boden, auf dem die allermeisten mit beiden Beinen stehen und lass die Fakten sprechen, als hätten sie selbst einen Mund, um mit Deinem Nachbarn zu diskutieren.

Ersetze Begriffe wie „effizient“ durch „einfach und schnell“ und lass die „Servicemaßnahme“ von einem Techniker erledigen, der beim Hubbleteleskop, das in 550 Kilometer Höhe um die Erde kreist, nicht einfach so vorbeischneien kann; allein die Kosten für die Anfahrt, astronomisch. Wenn Du dann noch von einer Technik erzählen kannst, die einen solchen Servicebesuch weitgehend überflüssig macht, dann hat Deine Geschichte gute Chancen, eine gute Geschichte zu werden.

PS: Ach ja, Empathie /ɛmpa’ti/: bezeichnet Fähigkeit und Bereitschaft, Gefühle einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden.

Volker Joksch

Volker Joksch

... arbeitet als freier Schreiber und Content-Jongleur. Wenn er sich nicht gerade über Themen beugt, kugelt er über Aikido-Matten und prügelt sich mit Holzstöcken. Hier schreibt er als Gastautor im Wesentlichen über seine Arbeit und entwickelt eine Farbenlehre für Text.