Im Körper Deines Lesers

4 Min. Lesezeit

Aller Text fängt mit dem Leser an. Nur wer kennt den schon?

SEO versucht eine Antwort. Sich allein darauf zu verlassen hieße aber, die nächste Wahl abzusagen, nur weil es Prognosen und Statistiken gibt. Wie schreibt man also leserorientiert?


Jeder Schreiber will gelesen werden. Selbst der Tagebuchautor, der den Schlüssel zu seinem heimlichen Werk an einer Kette um den Hals trägt, schreibt mindestens für sich – und hat dabei dasselbe Problem wie alle anderen: Würde er den Leser gut kennen, ein kurzes Zwiegespräch und die Sache wäre schnell vom Tisch. – Gut, bei namhaften Autoren ließe sich das mit dem Gespräch so leicht nicht bewerkstelligen.

Nutzen

Es muss einen Grund geben dafür, dass Leser überhaupt zu einem Text greifen. Dieser Grund bestehe, Ulrich Kirschner hat das Anfang der Siebziger herrlich nüchtern festgehalten, im Nutzwertversprechen: „Der Leser will aus der Lektüre Nutzen ziehen, er will sich informieren […], seinen Horizont erweitern.“

Dabei muss nicht jeder Text eine Gebrauchsanweisung sein. Auch im Spaß an der Freude kann ein Nutzen liegen. Nicht von ungefähr heißt in Wolf Schneiders Schreiber-Bibel der Achtziger „Deutsch für Profis“ ein ganzes Kapital: „Nützen und Ergötzen“. Insofern ist jeder Schreiber gut beraten, wenn er sich beim Tippen darüber im Klaren ist, welchen Mehrwert er seinem Leser für die drei oder vier Minuten seiner Lesezeit bieten will.

Grauwert mit Textur

Ist die Absicht geklärt, müsse der Text, so Schneider, interessant, kurzweilig und – das ist ein wichtiges Wort – anschaulich sein. Schneider: „Wir sollten Leser so nahe ans Sehen, Hören, Riechen und Anfassen führen, wie dies mit Worten möglich ist.“

Weil der Leser so schrecklich unbekannt ist, haben sich Generationen von Sprachkundlern und Stilkritikern vor allem am Medium selbst, der Schriftsprache, abgearbeitet. Was dem Mediziner die Anatomie, ist dem Schreiber die Grammatik. Dass, wer sie beherrscht, nicht unbedingt einen geraden, interessanten Satz formuliert, beweisen Juristen jeden Tag. Rechtschreibung und Grammatik helfen, keine Frage. Sie sind der gemeinsame Boden, auf dem sich auch mit dem unbekanntesten Leser gemeinsame Sache machen lässt.

Viel wichtiger für den interessanten Text ist aber, dass er knapp und zielgerichtet, konkret und anschaulich ist. Um mit dem Fotojournalisten Robert Capa einen fachfremden zu zitieren: „Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, warst du nicht nah genug dran.“ Wenn der Grauwert beim Lesen hinter dem Bildschirm eine Textur bekommt, dass er sich förmlich anfassen lässt, kann der Text kein ganz schlechter sein. Wer wollte nicht vermeiden, dass der Leser sich abwendet mit Worten, gefunden im Blog von Huberta Weigl: [Er habe] “genug von all den Jargonschwätzern, die […] sprachliche Verwahrlosung gepaart mit Verdunkelungsabsichten als [Text] verkaufen wollen“?

Suchbegriffe verweben

Leser- und Nutzerbefragungen haben mit Klick- und Suchstatistiken mächtige Tools an die Seite gestellt bekommen. Wer seine Seite promoten will und weiß, dass seine Kunden drei Monate vor Ostern verstärkt nach „Ostern“, „Gomera“ und „Leihwagen“ suchen, wäre bescheuert, hätte er nicht zur rechten Zeit einen Text auf seiner Site, der alle drei Begriffe sinnvoll vereint – und dazu noch jede Menge Zusatzinformationen rund um die ebenfalls relevanten Suchbegriffe. Wer die nicht kennt, bekommt hier von OnPage-Gründer Merlin erklärt, wie’s geht.

Suchmaschinenoptimierung und das strickte Ausrichten von Webinhalten an statistisch konstruierten Nutzerprofilen stellen den potentiellen Kunden in den Mittelpunkt und sorgen dafür, dass die wahrscheinlich gefragtesten Inhalte möglichst mundgerecht serviert werden. Im besten Fall merkt der schnelle Leser nicht, dass die Textschablonen nur notdürftig sinnhaft verbunden sind. Und selbst wenn sich nach Abschluss des Kaufs beim Kunden der leise Zweifel zur Gewissheit verdichtet, dass ein Strandurlaub auf den Kanaren gar nicht das Richtige ist – Leihwagen hin oder her – bleibt er bei seiner Entscheidung, wenn der Text das Idealbild einer unbeschwerten Erholung so widerstandslos positiv, prachtvoll und farbenfroh gemalt hat, dass die Enttäuschung über das Zurückrudern einfach zu groß wäre.

Keine Frage, eine große Kunst, solche Texte zu konstruieren. Die bloße Statistik gibt aber nur Häufigkeiten von Themen und Suchworten dazu. Für die richtigen Formulierungen muss der Schreiber sich auf etwas anderes verlassen: auf sich selbst.

Ganz bei sich und doch beim Leser

Sicher hast Du als Autor jede Menge Möglichkeiten, Dich Deiner Zielgruppe anzunähern. Messen, Vorträge, Diskussionsrunden, Likes, Kommentare, Feedback; ob das jedoch einen repräsentativen Eindruck verschafft, sei dahingestellt. Bei aller Orientierung an der Zielgruppe, an Studien und Statistiken, bei aller Empathie mit den Personas etc., das einzig verlässliche und harte Kriterium beim Schreiben bist Du selbst. Für Dich muss der Text Sinn ergeben. Worüber Du schreibst, musst Du selbst verstanden, gefühlt, gesehen, geschmeckt haben. Alles andere merkt der Leser, weil er es im Zweifel beim Lesen nicht versteht, fühlt, sieht etc.

Das geht weit über die Empfehlung hinaus, aktiv und persönlich zu formulieren, wie es zum Beispiel Sandra Holze in Ihrem Blog und endlos viele andere Schreiber mit Recht empfehlen. Mach Dich selbst zum Maßstab und nimm jede Untiefe, jedes Holpern ernst. Schließlich soll der Leser „lesen dürfen“ – ich komme am Ende auf Ulrich Kirschner zurück – „und nicht grübeln müssen“.

Die Sache mit der eigenen Erfahrung, die der Schreiber ins Spiel bringen muss, hat nichts mit der Forderung zu tun, dass man über Gomera erst dann vernünftig schreiben kann, wenn man selbst einmal dort gewesen ist. Stefan Zweig war bei keiner seiner Sternstunden selbst anwesend. Herzzerreißend sind seine historischen Miniaturen trotzdem. Recherche ist viel, die Fakten müssen stimmen. Gepaart mit der eigenen Erfahrung beginnen die Fakten zu leben. Das Ziel ist nicht die Wahrheit. Ziel ist das Zeichnen Deiner möglichst plausiblen und sehr anschaulichen Variante. Wenn sie Dir selbst möglichst klar und plausibel ist, dann ist die Chance hoch, dass es auch für andere klar, anschaulich und plausibel ist. – Alles andere ist Übung und Handwerk.

Volker Joksch

Volker Joksch

... arbeitet als freier Schreiber und Content-Jongleur. Wenn er sich nicht gerade über Themen beugt, kugelt er über Aikido-Matten und prügelt sich mit Holzstöcken. Hier schreibt er als Gastautor im Wesentlichen über seine Arbeit und entwickelt eine Farbenlehre für Text.